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DEZEMBERGLUT:

 Dezember Glut

Textprobe DEZEMBERGLUT:

 

 Erinnerungen

Stunden, Tage oder Wochen krochen dahin. Wenn ich es schaffte, aufzustehen und einen Fuß vor den anderen zu setzen, ging ich wie auf Eis. Anfangs hielt es stand, aber wenn die Erinnerungen kamen, wenn ich versuchte, zu verstehen, Antworten auf das Schreckliche zu finden, brach ich wieder ein. Dann lag ich still und hielt die Augen geschlossen. Vielleicht, wenn ich ruhig blieb und bewegungslos, nichts dachte, mich weigerte, die Zeit mit Erinnerungen zu füllen, würden sie mich nicht finden. Aber sie fanden mich.

Immer.

In diesen Erinnerungen war ich wieder in der Gewalt von Gregor.

Gregor hatte Augen, die die Nacht durchschnitten, meinen Verstand und meine Seele. Er war der Anführer einer Gruppe von Vampiren, denen ich in die Hände gefallen war.

Vampire. Mitten in Berlin.

Sie waren furchterregend. Wie Tiere in einem Käfig, die sich gegenseitig bekämpften. Immer durstig nach Blut. Und Gregor war der Schlimmste von allen. Sein Wesen überschwemmte mich bei jeder Berührung, floss in mich hinein, füllte mich aus, als würde ich ertrinken in Grausamkeit und Gier.

Gregors Zähne schlugen sich in meinen Hals. Ich fühlte mich von seiner Bösartigkeit vergiftet, als wäre er immerwährend bei mir, auch wenn ich allein auf meiner Matratze lag und an die Decke starrte. Eine unsichtbare Kraft hielt mich dort fest. Bewegungslos. Wie eine Marionette, deren Fäden durchgeschnitten waren.

Ich war so schmutzig. Von außen und innen.

Meine Welt war klein und entsetzlich. Sie hörte neben meiner Matratze auf. Die schmale, verdreckte Tür am Ende des Zimmers führte irgendwohin, hinaus und weg von hier. Sie war unerreichbar. Ich starrte auf die rissige Decke mit dem Wasserschaden, bis es völlig dunkel war, und versuchte mir vorzustellen, ich sei ganz woanders. Als könnte ich nicht spüren, nicht hören, was um mich herum geschah.

Längst hatte ich aufgehört zu flehen, zu bitten, und meine Tränen waren versiegt. Aus schreiendem Entsetzen war stumme Verzweiflung geworden.

Endlich, als ich mich ergab, nichts mehr fühlte und meinen Körper aufgab, konnte ich mich an einen Platz in meinem Innersten zurückziehen, an dem mir niemand etwas zu Leide tat. Wo ich Erleichterung fand und Frieden.

Doch dort konnte ich niemals bleiben, und ich erwachte erneut in diesem Albtraum, der einfach nie enden wollte.

Wenn Gregor mein Blut nahm, schlich Martin um uns herum. Ich wusste, dass Martin mich wollte, nicht nur mein Blut. Aber Gregor ließ es nicht zu, er behielt mich für sich. Nur weil Martin mich begehrte. Manchmal stellte Gregor ihm in Aussicht, mein Blut und meinen Körper nehmen zu dürfen, um seine Erlaubnis doch jedes Mal zurückzuziehen. Irgendwann fehlte mir die Kraft, deshalb erleichtert zu sein.

Martin streichelte mich verstohlen, ich spürte sein Verlangen, seinen heftigen Zorn. Er wartete, wusste, seine Zeit würde kommen.

Ich wusste es auch.

Gregor bevorzugte Männer. Wie Mirko, ein Name, der zu seiner schönen Stimme passte. Denn plötzlich gab es noch einen weiteren Gefangenen im Zimmer. Er lag auf einer Matratze in meiner Nähe, ich konnte ihn hören, aber nicht sehen. Mirko war erst achtzehn. Anfangs hatten wir noch miteinander geflüstert, über unsere Chancen zu entkommen, und uns gegenseitig Mut zugesprochen. Bis Gregor ihn besuchte.

Mirko bekam seine Vorlieben zu spüren.

Ich konnte nichts tun, um ihm zu helfen. Oder um mich selbst vor dem zu schützen, was neben mir geschah. Da ich unfähig war, meinen Kopf zu bewegen, brauchte ich nicht hinzusehen. Aber es gab keine Möglichkeit, dem Flehen, Stöhnen und Mirkos verzweifelten Lauten zu entkommen. Noch lange, nachdem Gregor weg war, hörte ich ihn neben mir weinen und würgen. Ich weinte und würgte ebenfalls, jedenfalls die ersten Male. Bis Mirko nicht mehr auf meine vorsichtigen Fragen reagierte. Bald darauf wurde er tot hinausgetragen. Das war das erste Mal, dass ich ihn sah.

Trotz allem, was geschehen war, trotz allem Grauen hatte ich nie wirklich geglaubt, mir einfach nicht vorstellen können, tatsächlich sterben zu müssen. Nun fühlte ich mich, als sei ein Teil von mir mit ihm gestorben.

Ich war wieder allein. Mit meiner Angst, meiner Todesangst. Ich glaubte, sie niemals wieder ablegen zu können. Selbst wenn ich überleben sollte – ich wusste, dass ihre Narben für immer in meiner Seele zurückblieben.

Es schien jedoch zwei Arten von Vampiren zu geben, die abgrundtief bösen wie Gregor – und diese anderen, die uns befreiten. Sie töteten Gregor sowie alle Peiniger aus seiner Gruppe bis auf Martin.

Diese Vampire lebten schon sehr lange in Berlin und gingen unerkannt von den Menschen erfolgreich ihren Geschäften nach. Sie bezeichneten sich als Gemeinschaft. Und in deren Zentrale hielt ich mich jetzt auf. Sie lag unter dem Luxushotel Aeternitas, am Gendarmenmarkt in Berlin-Mitte. Das Hotel gehörte der Gemeinschaft der Vampire, ebenso wie zahlreiche Berliner Clubs und das Wachschutzunternehmen Nacht-Patrouille. Die oberirdischen Etagen boten ein erstklassiges Angebot für menschliche Hotelgäste. Unterirdisch gab es ein Vampir-Hotel, von dem nur wenige Menschen, die Vertrauten der Gemeinschaft, wussten. Darunter befand sich auf zwei weiteren Etagen die Zentrale mit Büros und Wohnungen.

Die Vampire der Gemeinschaft waren ebenfalls furchterregend, aber auf eine Weise, die mit Gregor und seiner Gruppe nicht zu vergleichen war. Bleiche, attraktive Gesichter und Augen, deren Blicken ich auszuweichen versuchte, seit ich wusste, wie viel Macht Vampire damit über Menschen besaßen – und was sie ihnen alles antun konnten. Sie erschienen fast menschlich. Manche sogar freundlich. Im Gegensatz zu Gregor und seiner Gruppe töteten sie keine Menschen, und niemand tat mir etwas zuleide.

Sarah sprach oft mit mir. Sie schien noch jung für einen Vampir und so normal, dass ich fast vergaß, wer und was sie war. Sie war diejenige, die mir vom Tod meiner Eltern erzählte. Sie lächelte häufig. Nur wenn sie mich ansah oder mit mir sprach, wurde sie traurig.

Ich machte sie traurig.

Noch immer durchfuhr mich eine tiefe Angst, wenn ich in die Nähe von Vampiren kam. Deshalb schloss ich mich am liebsten in mein Zimmer ein und blieb im Bett, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Doch dann hörte ich von ihren Plänen mit mir. Diese Pläne gefielen mir nicht. Ich widersprach, aber Sarah schüttelte den Kopf.

Mein Ärger gab mir Kraft. Endlich wusste ich, was ich zu tun hatte. Meine Welt, mein Inneres war brüchig, aber ich würde gegen meine Ängste angehen. Flüchten. Nach vorn. Das war ich meinen Eltern schuldig. Das Eis wurde fester und fing an, mich zu tragen. Ich entschied mich, aufzustehen und mein Zimmer zu verlassen. Jeden Schritt empfand ich als Risiko. Denn ich musste etwas tun, was mir riesige Angst einjagte. Mit Julian sprechen.

Dem mächtigen Anführer der Gemeinschaft.

 

Kapitel 1

In den langen, unterirdischen Gängen war es still, und selbst wenn jemand entlangging, war kein Geräusch zu hören. Nur manchmal klingelte irgendwo ein Telefon, oder ich hörte Stimmengewirr und Lachen, meistens von der Rezeption, dem Dreh- und Angelpunkt der Zentrale.

Ich ging vorbei an Räumen, deren Zweck ich nicht kannte, und suchte den einen, der mir genannt worden war. Dort wartete ich in einem der bequemen Sessel gegenüber der Tür und ließ sie nicht aus den Augen.

Als sich die Tür endlich öffnete, stand ich unsicher auf.

Der erste Mann, der das Zimmer verließ, hatte langes blondes Haar. Ich erinnerte mich an ihn, er hatte bei unserer Befreiung Anweisungen erteilt, und ich erinnerte mich ebenfalls an die Blutspritzer in seinem Gesicht. Das musste Julian sein, der Anführer der Gemeinschaft.

Den zweiten Mann hatte ich noch nie gesehen. Er war nicht ganz so groß und hatte kurzes, dunkles Haar.

Ich machte einen Schritt auf den Blonden zu, doch dann stutzte ich. Der Dunkelhaarige hatte etwas an sich, eine Präsenz, die fast greifbar war, eine Ausstrahlung von Stärke, Macht und Dominanz, die mich dazu brachte, meinen Plan zu ändern und im letzten Moment die Richtung zu wechseln. Aber mein Körper zitterte, und meine Beine gehorchten mir nicht länger. Ich stolperte.

„Was zum Teufel …“, hörte ich den Blonden. Fast wäre ich mit ihm zusammengestoßen.

Nun sahen mich beide Männer an.

Vampire. Ich hatte ihre volle Aufmerksamkeit und geriet in Panik. Ihr Blick schien alle Kraft aus meinem Körper zu ziehen. Das Eis, das ich inzwischen für sicher gehalten hatte, brach krachend ein.

 Der Dunkelhaarige sagte etwas zu mir. Ich sah, wie sich seine Lippen bewegten, hörte Worte, deren Sinn ich nicht verstand. Meine Gedanken wirbelten wie ein Schneesturm in meinem Kopf, ich hörte ein Rauschen, das immer lauter wurde, seine Worte durchdrang und sie schließlich gänzlich abschnitt. Im nächsten Moment fand ich mich auf dem Boden wieder. Das Rauschen war verstummt, nur mein Herzschlag dröhnte in meinen Ohren.

„Das ist ein absolut schlechter Zeitpunkt.“ Die Kälte, die vom Blick des Blonden ausging, ließ mich frösteln.

 „Andrej. Sie will nur mit mir reden.“ Die Stimme besaß ruhige Autorität. Sie war alles andere als kalt und gab mir Hoffnung.

„Pierre wird gleich hier sein. Danach hast du den Inneren Kreis einberufen. Und wir müssen die Versammlung vorbereiten.“

„Dann warte hier und sag Pierre, dass er sich noch etwas gedulden muss.“

Das war Julian, da war ich jetzt sicher. Ich wagte nicht aufzustehen, aber ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und hob meinen Blick.

Julian hatte ein schroffes, strenges Gesicht, graue Augen und eine Nase, die man wohl aristokratisch nennen konnte. Alles an ihm strahlte Macht und Selbstbewusstsein aus. Nun streckte er mir schweigend die Hand entgegen.

Ich zitterte vor Angst. Spürte Panik. Widerwillen. Und fühlte mich auf die Probe gestellt. Nie hatte mir die Berührung eines Vampirs etwas Gutes gebracht. Spiel mit, redete ich mir zu. Ich wollte etwas von ihm. Außerdem hatten mich die Vampire der Gemeinschaft befreit und Gregor getötet, und der Feind eines Feindes ist schließlich so etwas wie ein Freund.

Ich zauderte und griff zu. Ich spürte ein beunruhigendes Kribbeln, wie die Andeutung einer dunklen Kraft, die sich sofort wieder zurückzog. Dann war da nur noch Julians kühle Hand.

Julian stand regungslos und schaute mich unverwandt an, schließlich zog er mich hoch und ließ meine Hand los. „Komm.“ Er öffnete die Tür, die er eben geschlossen hatte. „Hier können wir reden.“

Langsam ging ich an ihm vorbei, nahm dunkles Holz an den Wänden wahr und einen weichen Teppich unter meinen Füßen, bevor ich auf die Kante des Ledersessels rutschte, den er mir angeboten hatte.

Mein Mund war trocken und mein Kopf leer.

Julian betrachtete mich. „Nun? Warum willst du mit mir sprechen?“ (…)

*****

 (aus Kapitel 12)

(…) Heute waren weder Damian noch Max oder Armando zum Training erschienen. Stattdessen hatte ausgerechnet Louisa die Vertretung übernommen. Sie hatte sich vor den Siebzehn aufgebaut, die alle in einer Reihe vor ihr standen. Ich war spät dran und nahm möglichst unauffällig meinen Platz neben Tiffany ein.

Tiffany hatte den Zeigefinger im Mund und war kurz davor, an einem künstlichen Fingernagel zu kauen. Das konnte nur eines bedeuten: Megastress.

Ausgerechnet Louisa. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich zu Hause geblieben. Normalerweise hatte Louisa überhaupt nichts mit unserer Ausbildung zu tun, und das war gut so.

Louisa hatte auch in der Übungshalle nicht auf ihre Stilettos verzichtet. Sie trug schwarze Leggins, die ihre schlanken Beine wunderbar zu Geltung brachten, und ein rotes, schlichtes Top, das so eng saß, dass man jeden Pickel an ihrem Oberkörper hätte erkennen können, wenn sie einen gehabt hätte.

Louisa begutachtete uns wie eine Schlange mit gesundem Appetit, die überlegte, welche Maus sie als erste fressen wollte.

 „Siebzehn junge und machtlose Vampire“, sagte sie. „Es wird noch sehr, sehr lange dauern, bis ihr nicht mehr so schwach seid wie jetzt.“ Ihr gelangweilter Blick blieb an mir hängen und veränderte sich, ihre Augen glitzerten unheilvoll. „Und was ist mit dir?“ Sie warf mir ein dünnes, herablassendes Lächeln zu.

Louisa war nicht größer als ich, aber auf ihren Killer-Heels konnte sie mühelos auf mich herabschauen, und ich fühlte mich ihr in jeder Hinsicht unterlegen. Die plötzliche Wut in ihrem Gesicht konnte ich mir allerdings nicht erklären. Ich fragte mich, ob auch weibliche Vampire in einem gewissen Alter unter Hormonschwankungen litten.

„Ich bin bei diesem Fitnesstraining immer dabei“, meinte ich zurückhaltend.

„Warum?“

„Eigentlich will ich lernen, wie ich mich gegen Vampire verteidigen kann.“

Einen Moment lang starrte sie mich nur an. Dann lachte sie ein perlendes, herrliches und absolut humorloses Lachen, so bösartig, dass es wie eine kreischende Säge meinen Kopf durchschnitt.

„Komm her.“ Sie hob die Hand, krümmte ihren bleichen Zeigefinger und machte die entsprechende Geste. „Wenn du wirklich glaubst, dass das funktioniert, dann zeig mir, was du schon gelernt hast.“

Nun hasste ich sie aus vollem Herzen, nicht nur, weil sie mir Angst einjagte. Ich wagte einen Seitenblick auf Tiffany. Ihre Augen zeigten die gleiche Angst, die ich fühlte. „Ich glaube, eine Maniküre will sie nicht“, flüsterte sie.

Ich verließ zögernd meinen Platz und trat vor.

Louisa vereinigte die Gemeinheit der Eiskönigin und die der bösen Stiefmutter, nur dass sie viel, viel schöner war. Ihre Augen schienen plötzlich heller zu glänzen. Ich betrachtete meine Fußspitzen, und es gelang mir, ihrem Blick auszuweichen. Aber ihre Macht war erschreckend groß und zog an mir wie ein Magnet. Ich hielt den Kopf weiterhin gesenkt, kniff die Augen fest zusammen und hörte wieder ihr Lachen.

Angst stieg in mir auf. Ich durfte nicht zusammenbrechen. Diesmal musste ich es schaffen, ich musste es Louisa beweisen, aber vor allem mir selbst. Ich versuchte mich an alles zu erinnern, was Ellen mir gesagt hatte, an die Bilder, die sie Gregor so entschlossen entgegengeschleudert hatte, um sich gegen ihn zu verteidigen, aber ich konnte keinen einzigen klaren Gedanken fassen. Meine Angst lag mir wie ein schwerer Klumpen im Magen, und meine Hilflosigkeit lähmte mich mit entsetzlicher Endgültigkeit. Ich stand wie erstarrt, unfähig, mich zu bewegen und fühlte, wie meine Abwehr bröckelte.

Wenn es mir nicht gelänge, mich zu befreien, würde Louisa mich vernichten, nur weil sie es konnte, und weil es ihr Spaß machte. Das wusste ich mit absoluter Sicherheit.

Ich versuchte, meinen Zorn ihrer Macht entgegenzusetzen. Wehrte mich und kämpfte, wie ich es noch nie zuvor getan hatte. Doch ihre Kraft brandete wie eine reißende Flutwelle über mich, und als mein Kopf zu zerspringen drohte, wusste ich, dass ich Louisa nicht länger widerstehen konnte. Ich sah auf.

Louisas Augen glitzerten so kalt wie Diamanten. Sie stand still wie eine Statue, von flammendem Haar umgeben, schien nicht zu atmen, den unmenschlichen Körper starr und angespannt. Mein Herz raste, und ihr Blick schien all meine Kraft einzusaugen. Nun war ich ihr vollkommen ausgeliefert. Ihr Wille stieß in meinen Verstand, meine Gefühle, ich spürte Panik, die sich zu Todesangst steigerte, und wusste, dass ich verloren war. Ohne es zu wollen, machte ich einen weiteren Schritt auf sie zu.

Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung wahr. Tiffany war ebenfalls vorgetreten, und für einen Moment ließ die Macht, die von Louisa ausging, nach. Sie war abgelenkt. Aber was immer Tiffany unternehmen wollte gelang ihr nicht. Jäh wurde sie auf den Boden geschleudert. Louisa hatte nur eine lässige Handbewegung gemacht.

Nun hatte ich wieder ihre volle Aufmerksamkeit. Ihr kalter Zorn traf wie splitterndes Eis in meine Brust. Aber ihre Stimme war warm und sanft wie ein Streicheln. „Nun siehst du, wie überaus erfolglos du bist.“

Auf einmal schien Louisa eine Handbreit über dem Boden zu schweben, lange Finger hielten ihren Hals in einem groben Griff.

Die Zeit stand still, alle um mich herum hielten den Atem an, und ich sah das Erstaunen in Louisas Blick. Sie gab keinen Laut von sich, aber ihr Gesicht verzerrte sich vor Furcht.

Auf einmal war er da gewesen, ich hatte ihn nicht kommen sehen. Sein Gesicht war leer, aber seine Augen loderten. Nie zuvor hatte ich ihn so beängstigend gefunden.

Er ließ Louisa so abrupt los, dass sie unsanft auf ihrem Hintern landete.

„Geh ins Büro und warte auf mich.“

Louisa stand auf, massierte ihren Hals und stöckelte davon. Sie sagte kein Wort, aber sie würde seinem Befehl gehorchen, daran hatte ich keinen Zweifel.

Damian würdigte sie keines weiteren Blickes. Sah mich an.

Ich zitterte am ganzen Körper, vor Angst und vor Kälte, und mir wurde schwindlig, sodass ich mich nicht mehr auf den Füßen halten konnte. Ich sank auf die Knie.

Mein Magen fing an zu rebellieren, und ich würgte.

Damian ging neben mir in die Hocke, und sein Gesicht bekam einen Ausdruck, den ich nicht einordnen konnte. „Wenn du dir das nur endlich abgewöhnen könntest.“ (...)

*****

 (aus Kapitel 37)

(…)„Charis, ich schwöre dir, wenn du noch einmal versuchst, mir den Arm aufzureißen, dann fessele ich dich ans Bett.“ Die Stimme war voller Zorn.

Ich zappelte in seinem Griff. Da er auf mir lag, konnte ich noch etwas anderes spüren. Hart. Groß. Jetzt wollte ich DAS.

Mein Verlangen überwältigte mich, es schien mir unmöglich, länger warten zu können. Ich versuchte, mich ihm entgegenzubewegen und jammerte leise.

Er sog hörbar die Luft ein.

Mein Mund fand Worte. „Bitte. Jetzt, sofort.“ Ich spreizte erwartungsvoll die Beine.

Endlich wurde ich rücklings auf die Knie gezogen. Er hielt weiter meine Handgelenke, während er meine Bereitschaft fühlte. Dann zog er mich dicht heran, und ich keuchte verzückt. Endlich stieß er in mich hinein. Langsam. Kontrolliert. Zu kontrolliert für mich. Meine Bewegungen wurden heftiger. „Fester“, verlangte ich.

Er zögerte, doch dann stieß er endlich so zu, wie ich es wollte.

Wir landeten auf dem Boden und machten weiter. Er hatte meine Hände längst losgelassen, stützte sich rechts und links neben mir auf. Ich nutzte die Gelegenheit und biss ihn erneut.

Er brüllte vor Zorn, packte mich grob und trieb mich mit schnellen Stößen vor sich her. Ich kämpfte gegen ihn, versuchte vergeblich, Halt zu finden, doch er schob mich quer durchs Zimmer, bis wir die gegenüberliegende Wand erreichten. Er war tief in mir. Meine Brüste wurden an die Wand gepresst, ich wollte mich abstützen, aber er ließ nicht zu, dass ich meine Position veränderte.

Ich spürte seinen Zorn. Es war kein Zorn, der ihn von mir trennte, sondern einer, der mich suchte und strafen wollte.

Ich versuchte mich zu wehren, aber er hielt mich fest. Ich spürte seine Zähne, die langsam meine Schulter entlang glitten bis zu meinem Nacken, seinen plötzlichen Griff um meine Hüfte, dem ich mich vergeblich zu entziehen versuchte, der nicht zärtlich war, sondern schmerzhaft und Unterwerfung forderte. Ich sah ein Bild von Feuer und Hitze, schloss meine Augen und gab meinen Widerstand auf. Ein Beben durchlief seinen Körper, etwas in mir explodierte und riss mich fort, und ihn, ich hörte sein Stöhnen, spürte seinen kräftigen Biss in meinen Hals, der mich bändigte, und etwas in mir war endlich erloschen, gesättigt und befriedigt.

Ich hatte seinen Zorn gebraucht, um meinen loslassen zu können.

Wir blieben auf dem Boden liegen, an der Wand, ich spürte sein Gewicht auf mir, badete in unserem Geruch, der Umarmung seines Körpers, spürte den schnellen Rhythmus seines Herzschlags an mir und durch mich hindurch, war einen Moment nicht sicher, welche Empfindung, welcher Körper meiner war, wo Anfang und Ende. (…)

 

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NOVEMBERMOND:

Novembermond

Textprobe NOVEMBERMOND:

Prolog
Der Regen hatte aufgehört. Das gab den Ausschlag, seinen Plan endlich auszuführen.
Die Neumondnacht war kalt, und er trat von einem Fuß auf den anderen, während sich die Kälte langsam und unaufhaltsam in seinem Körper einnistete. Er zog sich die russische Soldatenmütze, die schon so oft Richards Spott provoziert hatte, tiefer in die Stirn. Immerhin hielt sie die Ohren warm.
Hier am Zeughaus war es menschenleer.
Vielleicht sollte er sich fürchten.
Entschlossen grub er seine Hände in die Jackentaschen und blickte zum gegenüberliegenden Ufer des Spreekanals, wo der Berliner Dom im Licht der Scheinwerfer majestätisch glänzte. Nur wenige Laternen erhellten den Lustgarten, und die vom Regen noch feuchte Luft legte sich wie ein Schleier aus tropfendem Nebel um die kahlen Bäume. Durch diesen Schleier sah es aus, als wären die Statuen auf der Museumsinsel zum Leben erwacht. Das war seltsam und beängstigend zugleich, dennoch erfasste ihn eine prickelnde Vorfreude, und seine Stimmung hob sich sofort. Denn das liebte er an Berlin, diese magischen Momente, die die Stadt nur mit denen teilte, die sich dafür offen zeigten. Berlin war die coolste Stadt überhaupt, und wer Härte und Gleichgültigkeit beklagte, war nur zu dumm, um seine Geheimnisse zu lüften und zu nutzen. Ihm jedenfalls hatte Berlin nichts als Glück gebracht, seit er vor drei Jahren allein und ohne Geld am Bahnhof Zoo strandete. Heute Nacht würde er sein Glück sogar selbst in die Hand nehmen, wobei Richards Verbot alles noch viel aufregender machte.
Endlich war es so weit. Sie kamen von Unter den Linden, und er sah sie sofort, obwohl ihre lautlosen Schritte sie nicht ankündigten. Vier Männer und drei Frauen, ganz in Schwarz gekleidet, ihre Gesichter zeigten kühle Entschlossenheit. Und Richard befand sich unter ihnen. Als sie schon sehr nahe waren, drehte Richard den Kopf und blickte in seine Richtung. Schnell schob er sich in einen Hauseingang und wartete. Falls Richard ihn entdeckte, würde es Riesenärger geben.
Aber alles ging gut, sie liefen weiter und an ihm vorbei, ohne ihre Schritte zu verlangsamen. Er folgte ihnen vorsichtig und mit großem Abstand in Richtung Pergamonmuseum. Die Straße machte eine Biegung. Hier schlug der Wind heftig nach ihm und lenkte ihn ab, sodass er der Gruppe viel zu nahe kam. Sie hatte sich bereits im Kreis aufgestellt. Hastig trat er zurück und presste sich an eine Hauswand, die noch von Einschusslöchern aus dem Krieg gezeichnet war. Eine machtvolle Energie strömte von den Männern und Frauen aus, erfasste ihn und fegte durch ihn hindurch, als wollte sie sein Blut zu Eis gefrieren. Als es endlich vorbei war, lag er zitternd auf den Knien. Es dauerte eine Weile, bis er wagte, aufzustehen und um die Ecke des Hauses zu spähen. Der Kreis löste sich auf. Die Gruppe trat wie auf einer Linie vor und verschwand so plötzlich, als hätte ein unsichtbarer Vorhang sie verhüllt.
Er starrte verblüfft auf die leere Straße. Der Fernsehturm im Hintergrund blinkte gleichgültig, als wäre nichts geschehen.
Von wegen, zu gefährlich. Er fühlte sich ausgetrickst und betrogen. Alles lief ganz anders als in seiner Vorstellung. Richard hütete viele Geheimnisse, und das war eines, in das er nicht eingeweiht worden war. Wieder einmal. Sollte er wirklich noch warten? Oder nach Hause fahren und seinen Ausflug für sich behalten? Allerdings war er schon länger als zwei Stunden unterwegs, und wenn er jetzt einen Rückzieher machte, wäre alles umsonst gewesen.
Ein stetig lauter werdendes, dumpfes Dröhnen unterbrach seine Gedanken. Es kam von dort, wo Richard und seine Gefährten verschwunden waren. Vorsichtig trat er näher, lauschte mit angehaltenem Atem und mühte sich, trotz der Dunkelheit etwas zu erkennen. Dann brach das Dröhnen plötzlich ab, und die jähe Stille verwirrte ihn.
Er wartete. Nichts geschah.
Wofür schlug er sich überhaupt die Nacht um die Ohren? Es war nichts Aufregendes passiert, jedenfalls nicht das, was er unbedingt sehen wollte. Trotzdem … komisch. Irgendetwas musste dort vorn los sein. Die Dunkelheit schien noch schwärzer zu werden, sich auszudehnen und zu ihm hinzukriechen. Er blinzelte nervös. Das viele Starren konnte unmöglich gesund für seine Augen sein, sie spielten ihm schon wieder einen Streich. Nur blieb diesmal das Hochgefühl aus. Mit der Dunkelheit kam eine lähmende Furcht, die langsam Besitz von ihm ergriff.
Als er es endlich schaffte, sich aus seiner Erstarrung zu lösen, versuchte er sich umzudrehen und zu fliehen. Doch es war zu spät. Die Dunkelheit kreiste ihn ein, und sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Etwas schnürte ihm unaufhaltsam den Atem ab und überwältigte ihn. Vollkommen. Er fiel auf den harten Asphalt,und seine Finger tasteten verzweifelt nach einem Feind, der nicht zu fassen war. So ist es also, zu sterben, dachte er überrascht, bevor er das Bewusstsein verlor.
Später, als Richard seine Mütze und einen Handschuh fand, war er außer sich, und auch von seinen Gefährten nicht zu beruhigen. Denn Richard wusste, was seinem Freund zugestoßen war. Doch es gab keine Spur, der er folgen konnte. Der Regen hatte längst wieder eingesetzt.

Kapitel 1
Die Mittagspause war fast schon vorbei, nur Dr. Meyer stocherte immer noch lustlos in seinem Essen. Ich hatte meinen vollen Teller längst zur Seite geschoben und mir einen Cappuccino geholt. Unsere Küche hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Um meinen Hunger zu besänftigen, nahm ich mir vor, nach Dienstschluss kurz bei Marcello zu halten und mir eine Pizza mit nach Hause zu nehmen. Vielleicht stand der Teller mit Keksen noch im Besprechungsraum. Als ich aufstand, legte Dr. Meyer seine Gabel mit einem resignierten Gesichtsausdruck beiseite.
„Frau Langner? Es gibt wieder einen sehr interessanten Fall bei uns auf der Geschlossenen. Allerdings halte ich ihn für so hoffnungslos, dass er keine wirkliche Herausforderung bedeutet.“ Er verzog den Mund zu einem verkrampften Lächeln. „Noch nicht einmal für Sie.“
Dr. Meyer, ein kleiner, blasser Mann Ende dreißig, sah immer müde aus. Er schien sich zu freuen, mein Interesse geweckt zu haben, starrte aber zur Seite, sobald sich unsere Blicke trafen. Blickkontakt war nichts, was er lange ertragen konnte.
„Erinnern Sie sich an den Patienten, der glaubte, von einem Dämon besessen zu sein? Im Januar? Und an die junge Frau, die wir im April mit den gleichen Symptomen aufgenommen haben?“
„Natürlich erinnere ich mich.“
Dr. Meyer machte eine Pause. „Die Wahnvorstellung, von einem Dämon besessen zu sein, scheint äußerst negativ mit der Lebenserwartung zu korrelieren“, sagte er bedeutsam.
Ich versuchte, genauso bedeutsam zurückzuschauen, wobei es mir schwerfiel, meinen Ärger zurückzuhalten. Sollte das ein ungeschickter Versuch sein, einen Scherz zu machen? Auf Kosten unserer Patienten? Auch wenn ich mich nicht an alle erinnern konnte – der Zustand dieser beiden war so schrecklich gewesen, dass ich ihre Gesichter, in denen sich Grauen, Schmerz und Wut abwechselten, noch immer vor mir sah. Sie starben nur wenige Tage nach ihrer Aufnahme.
„Sie hatten ja damals herausgefunden, dass diese Patienten nur während der Dämmerung ansprechbar sind.“ Dr. Meyer lehnte sich zurück und erlaubte mir einen kurzen Blick in seine braunen Augen, bevor er sie wieder auf irgendeinen Punkt knapp neben mir richtete. „Nun. Wenn Sie wollen – und selbstverständlich nur, wenn es Ihre Zeit erlaubt – haben Sie die Gelegenheit, Ihre Hypothese zu überprüfen. Wir haben Freitag Nacht wieder jemanden mit der gleichen Symptomatik aufgenommen.“
„Mein Gott!“
„Ein junger Mann, der glaubt, von einem Dämon besessen zu sein. Wahnideen, Körperhalluzinationen, Gedanken- und Willensbeeinflussung. Das volle Programm.“ Dr. Meyer sah mich abwartend an.
Ich blickte auf die Uhr. „Ich habe gleich eine Teamsitzung und anschließend drei therapeutische Einzelgespräche, aber ich werde mir den Patienten später ansehen.“
Dr. Meyer nickte zufrieden, stand auf und hob umständlich sein Tablett.

Die Absätze meiner flachen Pumps klapperten über das grüne Linoleum, als ich fünf Stunden später in den Verbindungsgang bog, der den Neubau der allgemeinpsychiatrischen Abteilung mit dem alten Backsteinbau verband, in dem die geschlossene Station untergebracht war. Eigentlich mochte ich die langen Flure mit ihren gläsernen Wänden und Dächern. Wenn ich hier unterwegs war, konnten sich meine Gedanken eine Auszeit nehmen und neu sortieren, außerdem verbrachte ich sowieso viel zu viel Zeit im Sitzen. Aber heute lag ein anstrengender Tag hinter mir, und der Gang schien sich kilometerlang auszudehnen.
Der Chefarzt hielt therapeutische Gespräche mit Patienten der Geschlossenen für überflüssig. Ich vertrat eine andere Meinung und besuchte sie so oft wie möglich, auch nach meiner offiziellen Arbeitszeit. So wie heute. Ich nahm meinenSchlüssel, öffnete die schwere Tür und ging zum Dienstraum des Pflegepersonals.
Hinter der Glasscheibe sah ich den blonden Kopf von Paula, der sich über eine Medikamentenliste beugte. Sie schaute stirnrunzelnd auf, als ich gegen das Glas klopfte. Dann erkannte sie mich, lächelte und ließ mich ein.
„Hallo Paula. Ist Dr. Meyer noch im Dienst?“
„Nein, Ellen“, sagte sie bedauernd. „Du hast ihn um eine halbe Stunde verpasst. Er hat dir sicher von dem jungen Patienten erzählt, den wir Freitag Nacht aufgenommen haben.“
Ich nickte und betrachtete kurz mein blasses Gesicht in dem schmalen Spiegel, der über dem Waschbecken hing. Aus meinem Pferdeschwanz hatten sich schon wieder einige Locken gelöst, und ich versuchte vergeblich, sie mit den Fingern festzustecken.
„Hast du eigentlich wieder einen festen Freund?“, überrumpelte mich Paula mit plumper Neugier.
Ich schloss für einen Moment die Augen und seufzte, wenn auch nur in Gedanken.
Es gab keine Frage, die ich so sehr verabscheute wie diese. Trotzdem klebte ich mir ein fröhliches Lächeln ins Gesicht. „Dafür habe ich gar keine Zeit.“
Von Beziehungen verstand ich eine ganze Menge. Nur mit meinen eigenen tat ich mich schwer, denn sie hatten mir kein Glück gebracht. Manchmal ist der, den man für unerreichbar hält und wie durch ein Wunder tatsächlich bekommt, eben doch nicht der Richtige. Jedenfalls sind dem Universum bei meiner Bestellung einige Irrtümer unterlaufen. Oder es liefert Mogelpackungen.
Mein Ex-Freund Thomas arbeitete als Neurologe im dritten Stock. Unsere Trennung war niemandem in der Klinik verborgen geblieben und geriet auch nach mehr als zwei Jahren nicht in Vergessenheit. Zum Glück bekam ich Thomas kaum zu Gesicht.
Paula schüttelte missbilligend den Kopf. „Du hast es gar nicht nötig, allein zu sein“, erklärte sie mit mütterlicher Urteilskraft.
Nicht nötig? Ich ging so gut wie nie aus, und meine letzte Verabredung, die mir eine Freundin aufgeschwatzt hatte, war gründlich schiefgegangen. Er hieß Arne, war Lehrer und der Bruder ihres Freundes. „Ihr habt so viel gemeinsam“, hatte sie behauptet. „Und Arne ist ja so sensibel.“ Das war er wirklich. Arne lud mich nach dem Kino in eine Bar ein, um dort nur über sich und seine Mutter zu sprechen.
Weil ich ja Psychologin und Therapeutin bin. Seine nächste Einladung lehnte ich dankend ab.
Im Unterschied zu Arne haben die meisten Männer allerdings Angst vor meinem Beruf, und wer will schon mit einer Frau zusammen sein, die den größten Teil ihrer Freizeit in einem Krankenhaus verbringt? Die Männer, die ich näher kannte, waren Patienten oder Arbeitskollegen. Kurz dachte ich an Dr. Meyer und meinen Oberarzt, Dr. Brunner. Auch die wirkten manchmal gestört, jedenfalls auf mich.
Alles in allem gab es also gute Gründe für mein männerloses Leben. Immerhin konnte ich jetzt so viel Zeit mit meiner Arbeit verbringen, wie ich wollte, ohne auf einen Partner Rücksicht nehmen zu müssen. Oder auf eine Katze oder ein anderes Haustier, ich hatte nämlich keins. Dafür besaß ich einen Gummibaum, einen Benjamin und eine Yucca-Palme. Meine Pflanzen brauchten einmal in der Woche Wasser, sonst stellten sie keine Ansprüche. Im Gegenteil, sie produzierten auch noch Sauerstoff. Alles in allem gestaltete sich unsere Wohngemeinschaft perfekt.
Es gelang mir, mein Lächeln beizubehalten. „Kannst du mir bitte die Kurve geben?“
Paula seufzte und drückte sie mir in die Hand. „Zimmer 418. Christian Hartmann.“
Der Patient lag in einem der wenigen Einzelzimmer, was deutlich auf die Schwere seiner Erkrankung hinwies. Ich blätterte durch die Unterlagen. „Gibt es sonst noch etwas Wichtiges? Von seinem Gesundheitszustand abgesehen?“
Paula nickte. „Der Junge ist ganz schön gruselig, und seine Anfälle sind beängstigend. Nachts ist er so gut wie gar nicht zu sedieren. Außerdem hatte er keinen Ausweis dabei, kein Geld und noch nicht einmal ein Handy. Dafür steckte er in einer teuren Lederjacke mit eingenähtem Namensschild. Wenn es überhaupt sein Name ist.“
„Dann konntet ihr noch niemanden verständigen?“
„Nein. Und ohne Versicherungskarte wird uns der Chefarzt wieder einen Vortrag über das Budget halten.“ Sie schnaufte bekümmert. „So ein hübscher, junger Mann. Du wirst schon sehen“, setzte sie vertraulich hinzu. „Wie ein Obdachloser sieht er nicht aus.“ (...)

*****

(…) Trotzig hob ich mein Gesicht und sah sie der Reihe nach an. Da war die blonde Frau, die ich bereits in der Philharmonie gesehen hatte. Daneben eine andere, klein, kurz- und schwarzhaarig. Ihre Gesichter zeigten keine Regung, wirkten wie mit Botox lahmgelegt, und auf weibliche Solidarität würde ich sicher nicht hoffen können. Neben ihnen stand dieser Mann mit den unglaublich langen, schwarzen Haaren, den ich schon im Club gesehen hatte. Seine Augen glitzerten wie Smaragde.

Ich blieb ruhig. Unheimlich ruhig. Ich würde auch ruhig bleiben, jedenfalls vorerst. Eigentlich wachse ich sogar durch Angst. Bei mir zeigt sich die Reaktion erst später, wenn der Stress nachgelassen hat. Dann aber um so heftiger, das wusste ich.
„Ich übernehme das“, sagte Julian in die Stille. Seine Gesichtsausdruck war ruhig, seine Stimme kühl und klar.
„Kennst du sie? Wie kommt sie hierher?“, wollte der Langhaarige wissen.
„Sie arbeitet in der Klinik, in der Christian untergebracht war“, erklärte Julian knapp und warf mir einen ärgerlichen Blick zu. „Hast du noch Kontakt zu ihm? War er es, der dir … hiervon erzählt hat?“
Nun sahen mich alle an. So, als wäre ich ein Ungeheuer mit sechs Köpfen, was mir ziemlich falsch und unlogisch vorkam. Da ich meiner Stimme nicht traute, nickte ich.
Julian sah plötzlich so aus, als hätte er körperliche Schmerzen.
„Wie konnte sie uns finden?“, fragte die Dunkelhaarige. „Ich habe den Umkreis selbst geschützt.“
„Blutaustausch“, mutmaßte die Blonde.
„Nein.“ Julians Stimme klang ärgerlich.
„Aber wie …?“
„Ich werde sie befragen“, meinte der Langhaarige.
„Nein, Jack. Du nicht. Das ist meine Aufgabe. Ich kenne sie aus dem Krankenhaus.“
„Ich möchte mich ebenfalls anbieten. Selbstverständlich nur, wenn du möchtest.“ Der Mann, der das sagte, war klein und korpulent. Er hatte außerhalb meines Gesichtsfelds gestanden, und neben seinen eindrucksvollen Begleitern wirkte er mit seinem dunklen Lodenmantel wie ein Volksmusiker inmitten einer Rockband. Oder ein Buchhalter inmitten einer Truppe Rausschmeißer. Das kommt wohl ganz auf den Blickwinkel an. Jedenfalls war sein Lächeln wohltuend freundlich.
Aber Julian schüttelte sofort den Kopf. „Nein, Oliver. Ich werde mich selbst darum kümmern.“
Ich fragte mich, ob ich deshalb erleichtert sein sollte oder nicht. (…)

 Gelbe Motiv


(…) Wir gingen zu einem der dunklen Häuser. Alle Fenster waren mit Jalousien oder Gardinen zugezogen. Gregors Begleiter öffnete die Tür im Erdgeschoss, und Gregor schob mich hinein. Ein Ferienapartment. Es roch nach eingesperrter Luft.
„Bitte, darf ich ins Bad?“, fragte ich mit einer Stimme, die ich nicht wiedererkannte, und sah Gregor an.
Der nickte freundlich, ich nahm meine Tasche und registrierte erleichtert, dass sie nicht versuchten, sie mir wegzunehmen. Ich schaltete das Licht ein. Das Bad hatte keine Fenster. Ich suchte mit zittrigen Fingern nach meinem Handy. Ich benutzte es nicht so oft, aber Gott sei Dank war es geladen. Die Polizei anzurufen, wagte ich nicht. Stattdessen schrieb ich eine SMS. Ich erwartete die ganze Zeit, dass mir das Handy aus der Hand gerissen wurde, aber ich konnte die Nachricht unbehelligt eingeben und abschicken. Vielleicht bemerkten die beiden nicht, was ich da machte. Oder es war ihnen wirklich gleichgültig. Ich schaltete das Handy aus und schob es zurück zwischen meine Wäsche. Dann setzte ich mich auf den Toilettendeckel und wartete, während mein Herz hämmerte.
Unterwegs zu sein, hatte einen Aufschub bedeutet.
Jetzt waren wir am Ziel.
„Komm endlich raus, Schätzchen. Sonst holen wir dich. Und das wirst du doch nicht wollen, oder?“ Gregors Tonfall war der gleiche, in dem schlechte Lehrer mit aufsässigen Kindern sprechen.
Drei Tage.
Als ob meine Angst etwas ändern würde. Ich versuchte, meine Schultern zu straffen und trat langsam aus dem Bad, das direkt in das kleine Wohnzimmer führte. Die Einrichtung stammte ganz offensichtlich aus dem Sortiment einer Billigmöbelkette. Gregor saß aufrecht in einem geblümten Sessel und erwartete mich. Er lächelte und sah mich an. Ich wollte meinen Blick von ihm losreißen, aber ich fühlte mich wie gelähmt.
„Komm her.“
Ich schwankte und gehorchte. Meine Füße setzten sich in Bewegung und gingen auf ihn zu, obwohl ich mich umdrehen und laufen wollte. Der Weg, den ich bis zu ihm zurücklegen musste, kam mir unendlich kurz vor.
Gregor saß vor mir, das Aussehen alles andere als eindrucksvoll, aber mit Augen, die mich festhielten. Sie tropften eine grausame Macht in mich hinein, langsam, stetig und qualvoll.
Ich fragte mich in plötzlicher Wut, wie oft er das schon gemacht hatte. Menschen quälen, um sich an ihrer Furcht zu weiden. Über Jahre, Jahrhunderte? Ohne nachzudenken, rannte ich, aber bevor ich ihn erreichte, zwang mich seine Kraft wie eine Puppe auf die Knie.
„Was wolltest du tun, Schätzchen?“, fragte er amüsiert. „Mich schlagen?“
Ich zitterte, bebte und blieb auf den Knien. Mein Inneres glühte, doch mein Körper fror. Ich wusste wirklich nicht, was ich hatte tun wollen. Mich nicht mehr so verdammt hilflos fühlen. Ihn erschrecken. Ihn schlagen? Eben wollte ich es. Aber hätte ich es fertiggebracht?
Gregors Blick veränderte sich, schien nochmals eindringlicher zu werden. Ich spürte, wie mich seine Kraft umhüllte und durchdrang. Sie veränderte sich, floss wie eine sanfte Woge um mich herum, durch mich hindurch und streichelte mich. Mein verkrampfter Körper entspannte sich sofort, und ich keuchte verwirrt, denn diese Energie war tröstend, beschützend und erleichterte mein Herz. Sie schien einen Ort tief in meinem Innern zu finden und ihn zu berühren. Dann veränderte sie sich erneut. Ich stöhnte und schlang die Hände um meinen Körper. Aber ich konnte mich nicht schützen.
Dass Vampire dazu in der Lage sind, Gefühle zu lesen, hatte Julian mir gesagt. Aber dies hier war anders, viel schlimmer. Gregor spielte mit mir, auf mir, wie man auf einem Musikinstrument spielt, das einem wunderbar vertraut ist und man absolut beherrscht. Darin war er ein Künstler. Gregor spielte mit meinen Gefühlen, meinem Verstand und mit meinem Körper. Ich fühlte Furcht, Lust, eine sinnlose Sehnsucht, Schmerz, Freude und Hass, ganz wie er es wollte. Er hatte die Macht, alle Gefühle in mir hervorzubringen. Noch nie hatte ich etwas erlebt, dass mir mehr Angst einjagte.
„Komm jetzt zu mir.“
Ich stand auf und ging die wenigen Schritte mit schleppenden Füßen, aber ich ging. Dicht vor ihm blieb ich stehen. Innerlich zuckte ich zurück, doch äußerlich blieb ich bewegungslos. Gregor fasste mich am Kinn. Sein Daumen strich sanft über meine Wange. Ich schaute in das bleiche, reglose Gesicht, in dem goldene Augen freudig glänzten. Seine Augen stießen etwas in mir auf, um noch weiter in mich einzudringen, wie durch eine geöffnete Tür. „Sie ist so verführerisch wie der Apfel, den Adam von Eva bekommen hat. Und ihre Essenz erstaunlich klar und kräftig. Für einen Menschen.“ Gregor lächelte wie ein gütiger Vater. „Jetzt zeig mir noch etwas mehr von dir.“
Ein Teil von mir flüchtete wie ein erschrecktes Tier in die hinterste Ecke meines Kopfes, als er sich in Ruhe in mir umsah, sich genüsslich in mir breitmachte, in meinem Verstand und in meinen Gefühlen. Ich spürte seine Begeisterung, als er begann, eine quälende Erinnerung nach der anderen hervorzuholen, während langsam Tränen über mein Gesicht liefen. Er wühlte in meinen schlimmsten Erinnerungen, weidete sich an meinen größten Ängsten. Ich erlebte die Beerdigung meiner Mutter, den Tod meiner Schwester, stand in der Tür und beobachtete, wie Thomas mit Lissy schlief, sah diese blonde Ärztin mit der schlechten Dauerwelle vor meinem Krankenbett, als sie mir sagte, dass ich mein Kind verloren hatte. Ich lag im Bett und weinte um Julian, spürte den Dämon, der zu Neumond nach mir greifen und mich besitzen wollte, und sah Gregor vor mir, im Hier und Jetzt. Irgendwann wusste ich, ich musste loslassen, abschalten, sonst wäre eine Grenze überschritten hinter der ich nicht mehr zurückfinden könnte zu mir selbst.
Aber ich wusste nicht, wie.
„Julian hat nie ihr Blut genommen“, bemerkte Gregor gut gelaunt und ließ von mir ab. „Wir hätten gar nicht so weit fahren brauchen. Es gibt keine Verbindung, mit der er sie aufspüren könnte. Vielleicht hat sie recht und es liegt ihm weit weniger an ihr, als ich dachte.“ (…)

 

Posted on Oct 30, 2012